1
„Niemand kann zwei Herren dienen: Entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird an dem einen hängen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.“
– Mt 6,24 Lut
Ein unsichtbares Gewicht lag auf seiner Brust. Das Gefängnis wirkte auf ihn wie ein schwarzes Loch. Völlige Finsternis, die jedes Aufblitzen von Licht verschlang. Die Schritte hallten von den Wänden wider und grimmige Gesichter starrten ihn durch Gitterstäbe hindurch an. Gelegentlich schwebten gedämpfte Rufe oder Flüstern zu ihm herüber wie Geisterstimmen. Er wagte es nicht, sich ihnen zuzuwenden, sondern schlenderte mit gespielter Ruhe den Korridor entlang, bis er zur hintersten Zelle gelangte.
Der Insasse hockte auf seiner Pritsche. Die Beine angezogen, das Gesicht zwischen den Knien verborgen. Als er Schritte hörte, hob er den Kopf. »Sie schon wieder?«
Roux zückte Notizbuch und Kugelschreiber aus der Innentasche seines Jacketts, griff sich den leeren Stuhl, der in der Ecke für ihn bereitgestellt worden war und setzte sich darauf. Er schlug die Beine übereinander und lächelte den Gefangenen an. »Haben Sie mich vermisst?«
Der Mann hinter den Gitterstäben ließ den Kopf wieder sinken. »Wie oft wollen Sie die Geschichte noch hören?«
»Bis ich alle Fakten zusammengetragen habe, Wiglaf.« Die Kugelschreibermine schnellte mit einem Klicken hervor. Roux leckte sich die Lippen.
Der Gefangene sah auf und betrachtete ihn mit einem Blick, der nicht zu deuten war. »Sie kennen die Fakten. Wir waren dumm. Haben einen Dämon beschworen, ohne über die Konsequenzen nachzudenken. Der Dämon tötete meinen Freund. Ende der Geschichte.«
»Offensichtlich nicht, denn schließlich sitzen Sie nun im Gefängnis.«
»Ja, weil mir niemand glaubt. Nicht einmal Sie.«
Roux überflog die Notizen seines letzten Besuchs. Sie waren mager. Zu mager. »Wie kommen Sie darauf?«
»Ich sehe es in Ihren Augen.«
2
Einige Zeit später entschied Roux sich für den Umweg durch den Stadtpark. Um die Mittagszeit hielten sich dort wenige Menschen auf. In der Ferne vernahm er eine exotische Melodie, ähnlich einem Xylophon. Er drängte die Musik in den Hintergrund und kaute auf seiner Unterlippe herum. Vor ihm lag eine Wahnsinnsstory: Ein verrückter, der von Dämonen schwafelte, und den besten Freund auf brutalste Weise getötet hatte. Die Leute liebten Psychos. Aber irgendetwas fehlte. Die Story war eine Goldmine, ohne Frage, doch momentan brachte sie ihm keinen Ruhm, noch war sie zu gewöhnlich.
Wiglaf faszinierte Roux, den Mann umgab etwas Geheimnisvolles, etwas Wissendes. Irgendwie musste es möglich sein, diese Ausstrahlung in den Artikel einzuweben, die Leute zu fesseln. Sie glauben zu lassen, der Dämon könnte tatsächlich existieren.
Roux seufzte. Da wartete eine Menge Arbeit auf ihn. Gleich morgen würde er Wiglaf einen weiteren Besuch abstatten und alles aus ihm herauspressen.
Er drehte den Kopf in Richtung der Musik. In einiger Entfernung stand ein betagter Mann. Er hämmerte anmutig und gleichzeitig aggressiv auf ein Instrument ein, das wie ein riesiges Xylophon aussah – Eine Marimba. Ein seltsames Instrument für einen Straßenmusiker, zumindest hier in Deutschland. Der Wind trug die Melodie herüber und verformte sie zu disharmonischen Klängen. Roux fröstelte. Irgendetwas an diesem Man kam ihm unheimlich vor. Die Bewegungen des Alten schienen zu verschwimmen, so als spielte er das Instrument in übermenschlicher Geschwindigkeit. Es erinnerte an ein Lineal, dessen Ende zum Schwingen gebracht worden war.
»Haste ´n paar Cents für mir?«
Roux fuhr zusammen. Völlig in Gedanken versunken hatte der den Obdachlosen übersehen, der mit unterschlagenen Beinen auf einer Decke saß. Er hielt einen Becher von sich gestreckt, in dem Kleingeld klimperte.
»Nein«, sagte Roux.
»Ach kommen Sie schon, Mann. Sie sehen aus, wie als hätte Sie was übrig, für ´nen armen Kerl wie mir.«
Die verzerrte Melodie der Marimba schien anzuschwellen und Roux rieb sich entnervt die Schläfe.
»Such dir einen Job.« Eilig machte er sich davon. Er bekam langsam Kopfschmerzen.
3
»Ich kann Ihnen nichts Neues erzählen. Die Geschichte verändert sich nicht, nur weil Sie sich etwas erhoffen.«
»Ich erhoffe mir einzig, Wiglaf, die Wahrheit festzuhalten. Sollten Sie einen Dämon beschworen haben, möchte die Welt das wissen. Ich halte es demnach für meine Pflicht, diesen Artikel zu schreiben.«
Der Gefangene schnaufte. »Sollte.« Jetzt lächelte er, aber es ließ ihn alt aussehen, und müde. »Wie wollen Sie die Menschen erreichen, wenn Sie selbst nicht an Ihre Arbeit glauben.«
»Oh, das tue ich.«
»Sie glauben an sich und Ihren Erfolg, nicht aber an die Wahrheit.«
Roux setzte zum Sprechen an, verstummte jedoch direkt wieder, als er Musik vernahm. Seltsam verzerrte Klänge – die Marimba. »Na wunderbar, jetzt wartet der Alte wahrscheinlich gleich vor dem Gefängnis auf mich.«
»Wovon sprechen Sie?«
»Na, die Melodie. Irgend so ein Kerl spielt auf einer Marimba, ich habe ihn gestern im Park beobachtet und jetzt hat es ihn wohl hierher verschlagen.«
»Ich höre nichts.«
»Wie bitte? Das ist doch nicht zu überhören.« Roux hob die Augenbrauen an und beide lauschten einen Augenblick.
»Ich höre nichts«, sagte der Gefangene erneut.
Roux rieb sich den Magen, in dem sich ein mulmiges Gefühl ausbreitete. Wie war das möglich? Veralberte er ihn etwa?
»Seien Sie vorsichtig«, sagte Wiglaf. Er wirkte mit einem Mal verändert, senkte die Stimme und sein Blick schweifte unruhig umher. »Wir haben die Beschwörung damals nicht ganz zu Ende geführt. Nachdem wir gemerkt hatten, dass sie tatsächlich funktioniert, hörten wir sofort auf. Aber es war zu spät. Mammon war bereits stark genug und er hat sich Maik geschnappt.«
Roux versuchte, sich wieder auf seine Notizen zu konzentrieren. ›Mammon‹. Er notierte den Namen und unterstrich ihn dreimal.
Der Gefangene fuhr fort: »Aber Mammon hat noch nicht seine vollen Kräfte erlangt. Er ernährt sich von Geiz und Habgier. Wenn Sie nicht aufpassen, wir er ihr Streben nach Ruhm gegen Sie verwenden, sie vernichten. Mit genügend Macht kann er die Welt beherrschen. Wer weiß, vielleicht sogar Satan oder gar Gott vom Thron stoßen! Sie würden einen Kampf austragen, der fatale Folgen hätte, und zwar für uns alle.«
Roux unterdrückte ein Grinsen. Wiglaf hatte eindeutig den Verstand verloren. Die Marimba war mittlerweile verstummt und das mulmige Gefühl aus seiner Magengegend verschwunden.
»Ich schätze, ich habe genug gehört«, sagte er und erhob sich. Unnötig noch einmal wiederzukommen. Roux hatte alles, was er für den Artikel benötigte: einen Irren, den Namen des vermeintlichen Dämons und eine Leiche. Mit ein wenig Recherche würde er eine Story schreiben, die ihn berühmt machte. Nicht nur in Deutschland, nein auf der gesamten Welt. Alle Journalisten-Preise warteten auf ihn.
»Ich warne Sie«, rief ihm Wiglaf hinterher. »Der Dämon ist mächtig. Maik und ich setzten mit der Beschwörung ein Fanal.«
Roux eilte an den Zellen vorbei. Die grimmigen Gesichter wurden unruhig, warfen sich gegen die Gitterstäbe, hämmerten darauf ein oder brüllten.
»Mammon wird auch Sie holen!«, kreischte Wiglaf. »Er wird uns alle holen! Haben Sie gehört? Er wird uns alle holen!«
4
Niemand wartete vor dem Gefängnis auf Roux und er atmete erleichtert auf. Das mulmige Gefühl war zurückgekehrt. Wiglaf mochte wahnsinnig sein, aber die Panik in dessen Stimme und der plötzliche Aufstand der anderen Gefangenen, hatte ihn doch ein wenig nervös gemacht. Er entschied sich, direkt mit der Recherche zu starten, sobald er zuhause war. Roux atmete ein weiteres Mal tief durch, flüsterte »Freak« und setzte sich in Bewegung.
An der nächsten Straßenecke erklang erneut die Marimba.
Roux machte zwei mögliche Obdachlose aus, doch keiner von ihnen spielte ein Instrument. Er befühlte die Stirn, er schwitzte und seine Finger zitterten etwas. Ein paar Meter die Straße runter, standen verwahrloste Punker gegen einen Fahrgastunterstand der Bushaltestelle gelehnt. Beide hatten sich das Haar zu Irokesen frisiert, der eine mit roter, der andere mit grüner Färbung. Zwischen ihnen schlief ein Spitz, die Nase berührte leicht den halbvollen Napf vor ihm. Die Punks unterhielten sich ruhig. Ein Pappbecher auf den Gehweg diente als Einnahmequelle. Keiner der vorbeigehenden Menschen achtete darauf.
»Hätten Sie ein wenig Kleingeld übrig?«
Roux wirbelte herum. Schon wieder hatte er einen Obdachlosen zu seinen Füßen übersehen. Dieses Mal blickte ein alter Mann zu ihm auf und lächelt leicht. Für einen Heimatlosen wirkte die Kleidung, die er trug, unpassend. Hemd und Hose schienen direkt aus der Reinigung zu kommen. Vielleicht war er gerade erst obdachlos geworden, überlegte Roux. Der alte Mann grinste und entblößte eine Reihe schwarzer Stummel. Er fuhr sich mit einer Zunge darüber, die wie Dörrfleisch aussah. Roux lief es eiskalt den Rücken hinunter.
»Es muss auch gar nicht viel sein«, sagte er. »Nur ein bisschen Kleingeld für einen alten Mann wie mich.«
Roux wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der Alte kam ihm seltsam bekannt vor. Das unheimliche Grinsen machte ihn nervös.
Stimmen rissen ihn aus seiner Starre. Eine Horde breitschultriger Kerle hatte sich zu den Punkern gestellt und pöbelte sie an. Einer von ihnen trat den Pappbecher um, sodass das Kleingeld über den Gehweg rollte. Der Spitz kläffte und der Punk mit dem grünen Irokesen stellte sich beschützend vor ihn. Weitere Passanten liefen vorbei, als wäre nichts geschehen.
Roux schluckte. In der Ferne schwoll die Melodie der Marimba an.
Er ernährt sich von Geiz und Habgier.
Wieder wischte er sich mit zittrigen Fingern den Schweiß von der Stirn. Neben ihm schnalzte der Alte. »Ein Jammer, nicht wahr? Die Männer werden die schmächtigen Jungs dort zu Tode prügeln. Und das alles nur des Geldes wegen. Schnöder Mammon.«
Mit genügend Macht kann er die Welt beherrschen.
Einer der breitschultrigen Männer schlug dem Punk ins Gesicht. Die anderen johlten. Weitere Passanten schlenderten vorbei, ohne Notiz zu nehmen. Die Klänge der Marimba schienen nun die gesamte Straße auszufüllen.
Roux griff in seine Gesäßtasche und kramte Geldbörse und Handy hervor.
Er ernährt sich von Geiz und Habgier.
Ohne den Alten noch einmal anzusehen, legte er ihm den ersten Geldschein auf den Schoss, den er zu packen bekam. Der Alte grunzte verächtlich. Dann wählte Roux die Nummer der Polizei und die Klänge der Marimba verstummten.
Mammon ist mächtig.
Mit genügend Macht kann er die Welt beherrschen.
Vielleicht, dachte Roux, während sich ein Beamter am anderen Ende der Leitung meldete, tat Mammon das bereits.