(Vorlaut, Klumpatsch, Glut)
1
Ich habe immer Kinder gewollt. Vorgestellt habe ich mir eine Art Gilmore Girls-Paradies. Meine Tochter, zugleich beste Freundin, und ich gegen den Rest der Welt mit einem Mann zur Seite, der mir, wann immer ich ihn brauche, frischen Kaffee serviert. Was ich bekam, war ein One-Night-Stand, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnern kann, und einen aufgedrehten Sohn.
Ich liebe Noah. Er ist ein quirliges Kind, wahnsinnig witzig. Wie oft ich mir nicht schon fast seinetwegen in die Hose gepullert habe vor Lachen. Aber er kann hin und wieder ganz schön vorlaut sein.
Vor zwei Jahren saßen wir am Heiligen Abend bei Mutter am Esstisch. Wir kauten schweigend auf unseren Würstchen herum, als Noah mit vollem Mund rief: »Oma, dein Gesicht ist so lustig knitterig!«
Ich beobachtete mit angehaltenem Atem, wie Mutters knitteriges Gesicht erst rot anlief, sie einen Strichmund formte und anschließend Wurst und Kartoffelsalat mit Messer und Gabel malträtierte. Noah aß weiter, als wäre nichts geschehen, und ich bereitete mich innerlich auf die Standpauke vor.
Seit diesem Erlebnis betrachtet Mutter Noah immer mit diesem Du-bist-ein-ungezogener-Junge-Blick. Mich dagegen sieht sie auf dieselbe Weise an, wie früher schon: Erst lässt sie den Blick von oben nach unten schweifen, dann schnauft sie, ehe sich ihre Augen in kalte Steine verwandeln.
Zwischen Noah und mir herrscht nie Kälte. Im Gegenteil, es geht eher hitzig zu.
Manchmal gehen wir uns gewaltig auf die Nerven. In diesen Momenten denke ich an mein Gilmore Girls-Paradies und habe anschließend ein schlechtes Gewissen deswegen. Nach einem Streit schleichen wir wie geprügelte Hunde aufeinander zu, mit gesenkten Häuptern und Tränen in den Augen, um uns in die Arme zu fallen und über unseren albernen Streit zu lachen. Dann kommt mir mein erdachtes Paradies langweilig vor und mein Herz platzt fast vor lauter Liebe.
Das schlechte Gewissen hat Noah von mir geerbt. Die rotzfreche Art von seinem Vater. Vermute ich zumindest, denn ich bin eher kleinlaut. Das ist auch der Grund, weshalb ich eingewilligt habe, einen Monat lang in das Haus meiner Mutter zu ziehen, um Petunie zu hüten. Petunie oder auch Petty ist eine Katze. Sie verschläft den ganzen Tag und flitzt nachts durchs Haus, als würde sie unsichtbaren Mäusen hinterherjagen. Petty ist alt und schrecklich langweilig, aber Mutters größter Schatz.
Noah hat Petty einige Male zum Spielen aufgefordert. Doch die Katze hat ihn nur missbilligend aus einem Auge heraus angesehen, ihm ihren Fischatem ins Gesicht gegähnt und ihm den Hintern zugedreht.
»Hier ist es öde.«
Ich bin gerade dabei mir Zigaretten zu drehen und verteile vor Schreck die Hälfte des Tabaks auf der Küchenarbeitsplatte. Ich hasse es, wenn Noah sich von hinten anschleicht und mich plötzlich mit seiner mausartigen Kleine-Jungs-Stimme anspricht, und das weiß er. Deswegen macht er es dauernd.
»Ich weiß, mein Schatz, aber es sind ja nur ein paar Wochen. Die kriegen wir auch rum. Außerdem ist eh gleich Schlafenszeit für dich.«
»Oma hat nicht einmal einen Fernseher«, brummt er, ohne meinen letzten Kommentar zu beachten, und ich muss mir ein Lächeln verkneifen. Früher habe ich es immer für albern empfunden, dass Mütter alles an ihren Kindern niedlich finden, heute bin ich selbst so eine.
»Sie hört lieber Radio.«
Noah verzieht das Gesicht. »Petty ist auch öde. Hier ist es so öde. Ööööde!«
Mir kommt eine Idee. »Dann geh auf den Dachboden und finde dein eigenes Abenteuer. Da oben liegt eine Menge Klumpatsch.«
»Was ist Pumpatsch?«
»Klumpatsch. Das ist … ach, sieh doch selbst nach, Nono.« Anscheinend habe ich Noahs Interesse geweckt, denn da rauscht er auch schon davon. Ich widme mich wieder meinem Tabak.
2
»Da oben ist es voll unordentlich.«
Ich kichere. Meine Zigaretten sind fertig gedreht und eigentlich würde ich jetzt gerne auf der Terrasse eine rauchen, aber Noah hat es nicht lange auf dem Dachboden ausgehalten, also wird meine Lunge sich noch eine Weile gedulden müssen. Ich rauche nie vor meinem Sohn, sondern immer heimlich, wenn er in der Schule ist oder spielt oder schläft. Manchmal fühle ich mich dann selbst wie eine Schülerin, die sich auf dem Mädchenklo vor den Lehrern versteckt.
»Da liegen ganz viele komische Kleider und so Hüte und all sowas rum.«
»Ja, so pingelig deine Oma auch immer vorgibt zu sein, sie schmeißt selten etwas weg. Wenn sie alles auf dem Dachboden verstaut, denkt sie, es merkt niemand, dass sie in Wahrheit rummelig ist. Was hast du da?«
Noah zuckt mit den Achseln und reicht mir ein Buch, auf dem in großen Buchstaben ›Mandala‹ steht.
»Was ist das, Mama?«
»Das ist ein Malbuch. Da stehen Bilder drin, die du ausmalen kannst. Mandalas in Tierform.« Ich nehme ihm das Buch aus der Hand und mustere es.
Noah gähnt. »Langweilig.«
»Nicht dieses hier.« Ich senke die Stimme. »Dieses Buch besitzt Zauberkräfte.«
Noah wird hellhörig.
»Siehst du, es wurden kaum welche der Bilder ausgemalt«, sage ich und blättere das Malbuch wie ein Daumenkino ab. »Das war früher meins. Ich habe es von Oma bekommen und ihr wurde es vor vielen Jahren von einem geheimnisvollen Mann gegeben. Er sagte, sie solle die Bilder mit bedacht auswählen.«
Noahs Augen weiten sich. »Was kann es, Mama?«
»Dinge verschwinden lassen.«
»Boah!«
»Wer das Mandala Buch einmal besitzt, wird es erst los, wenn ein Nachfahre es findet. Mit anderen Worten: Es gehört jetzt dir.«
Noah nimmt mir das Malbuch aus der Hand und betrachtet es voller Ehrfurcht.
»Oma und ich haben kaum darin gemalt, weil es uns zu unheimlich war. Mit so einer Macht sollte man niemals spielen, Nono.«
Noah sieht auf und wir betrachten uns eine Weile, dann grinsen wir und fangen schließlich an zu lachen.
»Du bist doof«, sagt er.
»Du auch.« Wir machen einen Fist bumb. »Fast hätte ich dich gehabt.«
»Gar nicht.« Noah blättert in dem Malbuch herum, bis er bei einem Bild innehält. »Guck mal, eine Katze. Die sieht voll aus wie Petty!«
Ich betrachte das Bild. Es sieht ihr tatsächlich erstaunlich ähnlich. Der gleiche missbilligende Blick. Kurz ziehen sich meine Eingeweide zusammen, weil ich mich vor meiner eigenen, erfundenen Geschichte grusle. »Ach, viele Katzen sehen identisch aus.«
Noah hört mir gar nicht richtig zu und ehe ich meinen letzten Satz zu Ende gesprochen habe, flitzt er auch schon mit dem Buch im Schlepptau davon. Ich belauere Petty kurz argwöhnisch aus dem Augenwinkel, dann schnappe ich mir eine Zigarette und schleiche mich auf die Terrasse.
3
»Mama! Mama!«
Noahs Stimme zerrt mich aus einem angenehmen Traum voller Schokolade. Ich ziehe mir die Bettdecke über den Kopf und drehe mich auf die Seite.
»Mama!«
»Och, noch fünf Minuten, Nono«, murre ich.
»Nein, Mama, es ist Petty! Es ist Petty.«
Jetzt bin ich hellwach. Ich setze mich ruckartig auf und starre meinem Sohn in das verrotzte Gesicht. Tot, denke ich mit kalter Gewissheit. Das Mistvieh wagt es, vor den Augen meines sechsjährigen Sohnes zu sterben.
»Petty ist weg«, heult Noah.
»Hm? Wie weg?«
Noah drückt mir etwas in die Hand. Es ist das Mandala Buch. »Ich hab sie gemalt, Mama.«
Ich betrachte das Bild eine gefühlte Ewigkeit mit umnebeltem Verstand, ehe mir bewusst wird, worum es hier geht. »Du hast die Katze ausgemalt?«
Noah nickt und wischt sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen.
Ich lächele. »Petty ist nicht weg. Sicher versteckt sie sich irgendwo und kommt angeflitzt, sobald wir ihr Frühstück servieren. Na komm, geben wir ihr was zu essen.«
Noah nickt wieder, wirkt aber weiterhin völlig aufgelöst. Ich habe ein furchtbar schlechtes Gewissen, weil ich Nono offensichtlich doch Angst eingejagt habe. Normalerweise liebt er im Gegensatz zu seiner ängstlichen Mutter eine gute Gruselgeschichte, aber dieses Mal bin ich wohl zu weit gegangen.
Wir durchkämen das ganze Haus.
Je länger wir suchen, desto stärker verwandelt sich mein schlechtes Gewissen zunächst in Unbehagen, dann in echte Panik. Wo ist dieses altersschwache Fellknäuel nur?
Ich kann bereits Mutters wutverzerrtes Knittergesicht vor mir sehen. »Ihr habt mein Baby ermordet!«, kreischt sie. »Ermordet!«
Jeder einzelne Raum wird aufs Genauste inspiziert und auseinandergenommen. Es werden alle Schränke ausgeräumt, unter die Betten und das Sofa gelugt – Petty ist weg. Nicht einmal das Schütteln ihrer liebsten Knuspertaschen hilft. Ich betrachte unsere entfachte Unordnung mit wachsender Panik.
»Ich war das«, höre ich Noah hinter mir nuscheln und drehe mich zu ihm um. Er hält das Malbuch in der Hand und es fällt mir schwer, den Blick von der Katze zu nehmen, die mich daraus voller Missbilligung betrachtet. »Ich war böse, weil Petty so langweilig ist und jetzt hab ich sie weggemacht.«
»Du warst das nicht«, sage ich, so ernst ich kann, und beiße mir auf die Zunge, weil meine Stimme hörbar zittert und sich die Aussage eher wie eine Frage angehört hat. Langsam fange ich selbst an zu zweifeln. Was ist das für ein Malbuch? Sollte das früher meins gewesen sein, erinnere ich mich beim besten Willen nicht mehr daran. Und Mutter hasst Mandalas. Aber vor allem: Wieso sieht diese Katze darin so verdammt echt aus? Ich fröstele. Wenn das Buch also weder Mutter noch mir gehört, wem gehört es dann?
Mir fällt auf, dass Petty die ganze Nacht mucksmäuschenstill war. Normalerweise mutiert sie spätestens nach Mitternacht zum Wirbelwind. Die Katze aus dem Malbuch beäugt mich vorwurfsvoll, ich glaube sogar schon, ein Maunzen zu hören, und erschauere.
Noah zupft an meinem Pullover und ich stoße einen spitzen Schrei aus, der mir augenblicklich peinlich ist.
»Pst, Mama, hör mal.«
Ich unterdrücke ein Meckern und lausche. Da ist tatsächlich ein Maunzen. Schwitzend betrachte ich erst das Bild der Katze, dann Noah. Er hört es also auch? Da ist es wieder, ein leises Miauen. Mir fällt auf, dass es aus der Decke zu kommen scheint, statt aus dem Mandala.
»Mama, Mama! Petty! Das ist Petty!«
Erst jetzt registriere ich, dass wir uns neben der Tür zum Dachboden aufhalten. Das verdammte Ding besitzt dasselbe grässliche Beige der Wände und ist leicht zu übersehen. Wir haben vergessen, auf dem Dachboden zu suchen. Ich beiße mir von innen auf die Lippen und öffne die beigefarbene Tür. Eine schmale Treppe führt hinauf zu einer weiteren Tür. Noah rauscht an mir vorbei, reißt die obere Tür auf und verschwindet in der Dunkelheit.
Ich stehe da und schäme mich.
Ein Fauchen ertönt, gefolgt von Petty, die die Stufen herabsaust. Ich meine, in ihren Augen nicht nur wütende Glut zu sehen, sondern lodernde Flammen – kein Wunder, sie ist die ganze Nacht dort oben gewesen. Sie musste Noah unbemerkt nachgegangen sein, woraufhin er sie versehentlich einsperrte.
»Mama! Mama!«, ruft Noah und tritt aus der Dunkelheit heraus. »Petty ist wieder da!«
»Ich weiß, Schatz«, sage ich knapp, weil mir nichts anderes einfällt und ich am liebsten im Erdboden versinken möchte.
Noah eilt die Treppe runter, reißt mir das Mandala Buch aus der Hand, verschwindet erneut kurz auf dem Dachboden und schließt – jetzt ohne Malbuch – beide Türen hinter sich, ehe er sich breit grinsend vor mich stellt. »Das böse Buch ist weg«, sagt er triumphierend, so als hätte er einen Einbrecher vertrieben.
Mir ist das alles immer noch schrecklich peinlich, zum Glück hat nur mein Sohn mitbekommen, wie ich mich vor meiner eigenen Gruselgeschichte fast zu Tode erschreckt hätte. Und das, obwohl die Geschichte nicht einmal besonders unheimlich war!
Ich bemerke, dass Noah verschwunden ist, und finde ihn im Wohnzimmer wieder. Petty hat es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht und ihm den Hintern zugedreht. Noah macht das dieses Mal nichts aus, er hockt vor ihr auf dem Boden und streichelt die Katze. Zu meiner Überraschung schnurrt sie sogar.
Ich schüttle lächelnd den Kopf und verschwinde in der Küche, um Petty und uns Frühstück zu holen.