Pflanzlich
Fluss
Unerfahren
1
Ben schlenderte am Ufer des Sees entlang. Der azurblaue Himmel erstreckte sich über ihm und das herabscheinende Sonnenlicht ließ kleine Diamanten auf der Wasseroberfläche tanzen.
Schweiß stand Ben auf der Stirn, obwohl er eine kurze Hose und ein luftiges T-Shirt trug, auf dem Homer Simpson abgebildet war, der seinen Sohn würgte.
Trotz fehlender Wolken erschien Ben der Tag seltsam düster. Kein Lüftchen blies und nicht einmal das Plätschern sanfter Wellen, die gegen das Ufer schwappten, war zu hören. Der See schien wie erstarrt.
Etwas näherte sich. Es lauerte unter der Wasseroberfläche und wartete.
Ben blieb stehen, wandte sich dem See zu. In der Mitte des Gewässers stiegen Bläschen auf. Plötzlich schoss die Kreatur auf ihn zu. Hohe Wellen verhüllten sie.
Ben stand da und ließ es geschehen.
2
»Aufstehen, du Trantüte!«
Ben schlug die Augen auf.
Manfred stand mit in den Hüften gestemmten Händen im Schlafzimmer und hatte seine Such-dir-Arbeit-und-eine-Wohnung-Miene aufgesetzt. Obwohl Mama und er jetzt seit fast einem halben Jahr ein Paar waren, hatte Ben sich nicht angewöhnen können, in ihm eine Vaterfigur zu sehen.
Er hatte schon einen Papa, auch wenn er gestorben war.
Ben reckte sich und setzte sich auf. Er schielte auf die Zeitanzeige seines Dragonball-Weckers, aus dem ihn Son Goku und Son Gohan fröhlich zu grinsten. Sechs Uhr morgens. Es war Sonntag.
»Vergeude deine Jugend nicht«, bellte Manfred und stapfte auf die Jalousie zu, um sie zu öffnen. »Du bist dreizehn. In deinem Alter hatte ich längst einen Job!«
Ben erwiderte nichts.
Manfred duldete keine patzigen Antworten. Und keinen Widerspruch. Er zwang sich zu einem Lächeln und nickte. Die blauen Flecken an seinem Arm, vom letzten ›Nein‹ waren immer noch zu sehen.
Das erste Licht des Tages krabbelte ins Schlafzimmer wie eine Spinne, die sich der Fliege in ihrem Netz näherte.
Kurz wurde Ben von einem mulmigen Gefühl durchflutet, vergas es aber direkt wieder und sprang aus dem Bett.
Manfred mochte es nicht, wenn Ben sich Zeit ließ.
»Deine Mutter ist schon unterwegs und trifft sich mit dem grässlichen Weibsstück, das ihr diese Baracke von einer Ferienwohnung aufgeschwatzt hat, in der wir die nächsten zwei Wochen verbringen. Na ja, jetzt sind wir schon mal hier, da kann ich dich verweichlichtes Muttersöhnchen auch gleich unter meine Fittiche nehmen.«
Ben biss sich von innen auf die Lippen. Er hatte nie verstehen können, was Mama an diesem Grobian fand. Aber Erwachsene trafen häufig seltsame Entscheidungen, vor allem wenn sie einsam waren.
»Beeil dich!« Manfred stapfte aus dem Zimmer. »Heute bringe ich dir einen Männersport bei. Wir gehen angeln.«
3
Ben tauchte den Arm ins Wasser des Sees und genoss die Kühle auf der Haut.
»Hör auf mit dem Kinderkram«, bellte Manfred und zog ihn unsanft am Kragen seines T-Shirts zurück ins Schlauchboot. »Bist du bloß so nervtötend unerfahren oder doch strohdoof? Nimm die Angel und benimm dich einmal wie ein Mann.«
Manfred hielt ihm ungeduldig die Rute hin. Der Haken baumelte vor Bens Nase und funkelte verschwörerisch.
»Ich würde gerne noch ein wenig bei dir zugucken.«
»Herrgott, jetzt nimm das verdammte Ding!«
Ben zögerte, dann griff er sich die Angel. Er betrachtete kurz den Angeleimer, der schon bis zur Hälfte mit Fischen gefüllt war. Sie alle schienen ihn voller Zorn anzustarren.
»Wann möchtest du die alle essen?«
Manfred schnaufte. »Essen? Ich hasse Fisch.«
»Aber … wieso angelst du dann?«
»So eine selten dämliche Frage.«
Ben überlegte. So dämlich kam ihm seine Frage gar nicht vor.
»Wir angeln diese Ungetüme und anschließend kippen wir den Eimer am Ufer aus. Es sei denn ein Idiot kommt vorbei, der mir die Dinger abkaufen will. Alles schon passiert. Man weiß ja nie.«
Wieder beschlich Ben ein mulmiges Gefühl. Er wandte sich von den Fischen ab, spürte aber weiterhin ihre Blicke auf sich.
»Das sind Lebewesen«, murmelte er.
»Hä?«
»Ich mag nicht angeln.« Sofort biss Ben sich von innen auf die Lippen. Er wappnete sich für eine Ohrfeige.
»Du wirst angeln.«
Ben fuhr zusammen, Manfred hatte wie ein Raubtier geklungen.
»Diese Mistviecher sind froh, wenn sie am Haken baumeln. Die sind dazu geboren von uns geangelt zu werden. Das sind Tiere! Die fühlen eh nix, sind doch keine Menschen.«
Manfred lachte. Ein grollender Ton, bei dem sich Ben verkrampfte. Am liebsten hätte er ihm gesagt, wohin Manfred sich seine Angel stecken konnte, entschied sich aber dagegen.
Er holte aus. Der Haken flog ein Stück und landete mit einem Platschen im Wasser.
»Ey, wo ist dein Köder!« Manfred hielt Ben einen Wurm hin. Der krümmte sich zwischen Daumen und Zeigefinger, so als versuchte er zu fliehen. Ben drehte sich der Magen um.
»Ich habe schon einen dran«, sagte er und hielt den Atem an.
Manfred musterte ihn, dann nickte er und warf ebenfalls die Angel aus.
Ben atmete aus und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er hoffte inständig, dass die Fische den Haken nicht beachteten, ohne Köder standen die Chancen zumindest gut.
»Stinkende Drecksviecher«, schimpfte Manfred und begann über seine Angelkünste zu schwadronieren. Besonders brüstete er sich mit der Geschichte, in der er in einem Kajak und mit einem gewaltigen Kescher bewaffnet, einen reißenden Fluss überquerte und unzählige Wassertiere fing. Sogar ein Tintenfisch sollte dabei gewesen sein. Ein Märchen, das er mindestens einmal pro Monat zum Besten gab.
Ben schaltete ab. Er lauschte dem Wind und den Möwen, die kreischend in den Himmel aufstiegen. Noch immer bohrten sich Blicke in seinen Hinterkopf, er glaubte sogar, aus dem Wasser heraus beobachtet zu werden.
Tiere können fühlen, dachte er. Und irgendwann werden die Fische sich an dir rächen, Manfred.
4
Manfred bemerkte, dass Ben nur vorgab zu angeln, als er bereits den vierten Fisch in den Angeleimer warf und sein Stiefsohn damit beschäftigt war, in den Himmel zu starren.
Sie paddelten zurück ans Ufer und Ben erhielt seine ›Abreibung‹.
Die Ohrfeige traf ihn völlig unvorbereitet. In der Ferne kreischte eine Möwe. Den Eimer und die Fische darin ließ Manfred achtlos stehen.
Mama wartete vor der Ferienwohnung auf sie. Als Ben sie erblickte, sprintete er los, um in ihren Armen Trost zu finden. Ben weinte nicht, aber sie streichelte dennoch seinen Kopf und presste ihn an sich, wie damals, wenn er beim Spielen gestürzt war und sich die Knie aufgeschürft hatte.
Damals als Papa noch bei ihnen war.
Er bemerkte, dass sie zitterte.
»Was denn?«, fragte Manfred. Seine Stimme klang gepresst. »Ich habe ihm nur einen kleinen Klaps gegeben, weil er gelogen hat.«
»Du hast geschworen, ihn nie wieder zu schlagen«, sagte Mama. »Muss ich jetzt jedes Mal Angst haben, dass mein Sohn verprügelt werden könnte, wenn ich unterwegs bin?«
»Es war ein Klaps, verdammt nochmal!«
Mama drückte Ben fester an sich.
»Du solltest packen, Manfred. Dieser Ausflug war eine dumme Idee. ›Wir‹ waren eine dumme Idee.«
Ben hörte, wie Manfred einen tiefen Atemzug nahm. Sollte der Grobian auf Mama losgehen, würde er sie verteidigen. Selbst geschlagen zu werden war eine Sache, aber niemand schlug seine Mutter! Er würde sie beschützen, komme, was wolle.
Ben wappnete sich, zog sich aus der Umarmung und stellte sich vor sie, doch Manfred hatte sich bereits abgewandt. Er lief den Pfad zum See zurück.
»Ich werde noch mehr Fische angeln«, sagte er. »Wenn du aufhörst, dich aufzuführen wie eine menstruierende Zicke, reden wir weiter.«
Mama schnaufte. »Geht’s dir gut, Schatz?«
Ben beobachtete wie Manfred den Pfad entlang stapfte. Er wirkte wie ein düsterer Fleck, der das Sonnenlicht verschluckte. Er erschauerte, dann drehte Ben sich um. »Prima! Darf ich mich umgucken? Hier ist es so schön.«
Sie kicherte. »Na klar. Bleib aber nicht zu lange weg, ich werde uns was Leckeres kochen.«
»Was ohne Augen bitte!«
Mama stutzte. »Versprochen. Das Essen wird rein pflanzlich sein.«
»Aber mit Fleisch!«
Sie lachte und schlug sich mit der flachen Hand auf den Oberschenkel. »Genieß die Natur, du Rabauke. Halte dich vom Wasser fern, ja?«
Ben nickte.
5
Schon nach wenigen Schritten fühlte er sich beobachtet.
Er lauschte den Vögeln, dem Rauschen des leichten Windes, der durch die Baumwipfel strich. Doch egal wie sehr er sich konzentrierte, seine Gedanken schweiften immer wieder zu den armen Fischen, die Manfred im Begriff war zu fangen.
Wir angeln diese Ungetüme und anschließend kippen wir den Eimer am Ufer aus.
Ben schüttelte sich. Das mulmige Gefühl kehrte zurück, und dieses Mal gesellte sich noch etwas anderes hinzu: Wut.
Er machte sich auf den Weg zum See. Manfred würde heute keine Fische mehr am Ufer des Sees auskippen. Ben würde sie dorthin zurückbringen, wohin sie gehörten: ins Wasser.
Geduckt schlich der den Pfad entlang und versteckte sich hinter einem Busch. Er schwitzte fürchterlich und die Sonne brannte erbarmungslos auf ihn nieder. Sein Herz schlug wild und immer wieder musste er sich den Schweiß von der Stirn wischen.
Wenn Manfred ihn entdeckte, wäre die Hölle los.
Vorsichtig lugte Ben über den Busch. Er schirmte die Augen ab, um etwas zu sehen.
Das Schlauchboot trieb in der Mitte des Sees.
Es war leer.
Ben stutzte. Er erhob sich und überschaute den See. Keine Spur von Manfred. Vielleicht musste er mal pullern und hatte vergessen, das Boot zu befestigen.
Ben entdeckte den Angeleimer am Ufer und rannte hin. Die Fische lebten noch. Ihre Münder öffneten und schlossen sich in rascher Folge, sie schienen Angst zu haben. Er überlegte nicht lange und kippte den Eimer so um, dass die Tiere in dem See landeten. Denjenigen, die sich nicht von alleine davonmachten, gab er einen sanften Schubs.
Lächelnd beobachtete Ben, wie sie alle im Wasser verschwanden. Er hatte sich lange nicht mehr so gut gefühlt. Da fiel ihm das Schlauchboot wieder ein.
Plötzlich verfinsterte sich das gleißende Sonnenlicht. Vermutlich hatte sich eine Wolke vor sie geschoben, doch Ben wagte es nicht nachzusehen. Er betrachtete weiter das herrenlose Boot, wie es in der Mitte des Sees trieb, die Ruder ordentlich nebeneinandergelegt, sodass die Griffe aus dem Boot ragten. Für einen Moment platzten kleine Bläschen an der Wasseroberfläche. Ben schlang die Arme um sich. Er zitterte.
Wieder fühlte er sich beobachtet; dieses Mal vom See her. Wartend. Lauernd.
Und irgendwann werden sich die Fische an dir rächen.
Mit wild klopfendem Herzen hastete er zurück zur Ferienwohnung. Er flog nur so über den Boden. Er flog und wandte sich nicht um.
6
Polizeitaucher durchkämmten den gesamten See. Manfred blieb verschwunden. Nur seine Angel steckte wie eine Art Denkmal in dem Boden des Gewässers. So als hätte sie jemand dort platziert.