Fieber

3 Wörter Juli 2019
Grammatisch
Fünffach
Road Pricing

Fieber

1

»Jetzt stell dich nicht so an, Berdy.«
Lilli umklammerte das Lenkrad, um den Drang zu unterdrücken, ihrem Bruder eine zu scheuern. »Seid wir losgefahren sind, bist du in einer Tour am Jammern. Was ist das mit euch Kerlen? Muss bei jedem Kratzer immer gleich die Welt untergehen?«
»Das tut verdammt weh. Ich würde dich gerne mal sehen, wenn das Vieh dich gebissen hätte.«
»Du weißt doch nicht einmal, was es gewesen ist.«
»Bestimmt ein Fuchs oder so.«
»Ja, klar. Der hatte auch nichts Besseres zu tun, als in unser Zelt zu krabbeln und meinen ätzenden Bruder zu beißen.« Sie schnaufte. »Obwohl … vielleicht hast du ihm ja zu laut geschnarcht?«
»Fahr einfach, okay, Lilli?«
Sie drehte das Radio auf und The Clash sangen: »Should I stay or should I go«. Lilli trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad.
Ein Insekt prallte auf die Fensterscheibe und platzte. Sie ließ den Scheibenwischer an, der die Überreste allerdings nur verschmierten statt das Glas zu säubern.
»It’s always tease, tease, tease«, sang sie, »your’re happy when I’m on my knees.«
»Echt jetzt?«, murrte Berdy. »Du klingst wie Nina Hagen auf Droge.«
»Wärst du nicht so eine Memme, hätten wir genau in diesem Augenblick beide den Stimmen wahrer Rocklegenden lauschen können. Live«
»Ich hab mich schon fünffach entschuldigt. Wie oft denn noch?« Berdy stöhnte und hielt sich den Arm.
»Mindestens 100 Mal, denn das sind genau die Tage, die ich mich auf dieses Festival gefreut habe.«
»Ich auch! Falls du es vergessen hast. Gebissen zu werden stand sicher nicht auf meiner To-do-Liste.«
»Du könntest mir ja zumindest mal deinen Arm zeigen, damit ich mir den Mückenstich ansehen kann.«
»Du fasst den Arm nicht an! Der tut auch schon genug weh, ohne dass du darauf rumdrückst. Und es war keine Mücke, sondern irgendein großes Biest. Ein Hund oder Wolf oder so. Was weiß ich.«
Lilli biss sich von innen auf die Lippen und drehte die Musik ein Stückchen lauter.
AC/DCs ›Highway to hell‹ hatte the Clash abgelöst und sie schmunzelte über die Ironie. Sie steckte mit ihrem nörgelnden Bruder im Auto fest und tuckerte eine schier endlose Landstraße entlang, während sich über ihnen Regen zusammenbraute und sich drüben auf dem Festivalgelände all ihre Freunde betranken und guter Musik lauschten. Sie befand sich tatsächlich auf dem Highway zur Hölle. Warum hatte sie sich noch einmal weichklopfen lassen und Berdy mitgenommen? Nie wieder!
»Könntest du die Heizung etwas runter drehen?«, rief er über die Gitarren hinweg.
»Die ist nicht an, du Dumpfhuhn.«
»Kann ich das Fenster aufmachen?«
Sie betrachtete ihren Bruder eine Weile skeptisch, dann ließ sie das Beifahrerfenster ein Stück runter. »Weiter nicht, sonst regnet es gleich rein.«
Wie auf Kommando verwandelten sich die ersten Tropfen, die auf die Windschutzscheibe trafen, in donnernden Platzregen.
Sie fuhren eine Weile schweigend weiter. Lilli hatte Mühe, die Straße zu erkennen, und sie atmete erleichtert auf, als der Regen schon nach kurzer Zeit nachließ. Es dauerte nicht lange, bis die nächsten Insekten ihr Ende auf der Windschutzscheibe und im Abblendlicht des Wagens fanden.
Lilli verging die Lust auf Musik und sie schaltete das Radio aus. Mit jeder guten Nummer nahm ihre schlechte Laune zu. Das genügte. Sie würde sicher nicht wie Berdy im Selbstmitleid versinken.
»Was treibt der da?«, fragte er plötzlich.
»Wer?«
»Na, der Mann, da vorne. Der im Anzug.«
Lilli blickte sich um. »Da ist kein Mann.«
Berdy zeigte mit dem gesunden Arm nach draußen. »Doch da. Der mit dem Sack.«
»Willst du mich verarschen, Berdy, da ist niemand. Du zeigst auf einen Baum.«
Sie wechselten einen Blick und zum ersten Mal bemerkte Lilli, dass ihr Bruder schwitzte.
»Das kann nicht sein, er sieht uns direkt an. Du musst ihn doch sehen!«
Lilli grinste. »Du willst mir Angst machen, hm? Tja, Brüderchen, das zieht bei mir nicht.«
Berdy starrte aus dem Fenster. Er behielt den Baum im Auge, bis sie vorbeigefahren waren.
Lilli überkam ein mulmiges Gefühl, tat es jedoch ab. Berdy wollte sicher bloß die Stimmung auflockern. Allerdings beunruhigte sie doch ein wenig, dass er so stark schwitzte. Hin und wieder betrachtete sie ihren Bruder aus dem Augenwinkel. Kleine Schweißperlen standen ihm auf der Stirn und das Haar klebte ihm in feuchten Strähnen im Gesicht.
»Wie gehts dir Brüderchen?«
»Ich möchte gerne nach Hause, fahr einfach, ja?«
Langsam fing sie doch an, sich Sorgen zu machen. Berdy atmete, als hätte er einen 100-Meter-Sprint hinter sich. Lilli kramte in ihrer Hosentasche nach ihrem Handy.
»Na klasse«, sagte sie. Kein Netz. »Gefangen im Nirgendwo.« Dann lauter: »Hast du Handyempfang?«
Berdy nahm seins in die Hand, kniff angestrengt die Augen zusammen, als der Bildschirm aufleuchtete (mein Gott, wie doll er schwitzt!), und schüttelte den Kopf.
Ihnen blieb keine andere Wahl als weiter zu fahren. Zuhause konnten sie sich um einen Termin beim Hausarzt kümmern.
Eine Grippe, versuchte Lilli, sich zu beruhigen. Und ein bisschen Fieber.
Sie entschied sich, die Musik wieder einzuschalten, um Berdys Schnaufen nicht ertragen zu müssen.
»Die Vor- und Nachteile des Road Pricing…«, plärrte es aus den Boxen und sie drückte schnell den Ausschalter des Radios.
»Wieso wird heutzutage Deutsch und Englisch dauernd vermischt? ›Ich bin Up to date‹ und ›das sind round about 20 Euro‹. Ätzend.«
Berdy antwortete nicht. Er starrte schon wieder aus dem Fenster, so als hätte er etwas Neues am Straßenrand entdeckt.
»Das Lied mag ich nicht«, sagte er. »Es klingt so traurig.«
Lilli hatte das Gefühl, als fuhren eiskalte Finger ihren Rücken entlang. »Das Radio ist aus, Berdy.«
Er reagierte nicht.
»Wie geht es deinem Arm?«
Der Wind pulsierte durch das offene Fenster und schien mit jedem zurückgelegten Meter lauter zu werden. Lilli drückte den Fensterregler und sperrte ihn aus. Berdy bemerkte es nicht einmal.
Jetzt war nur noch das Brummen des Motors zu hören und das Schnaufen ihres Bruders.
»Das ist grammatisch einwandfrei«, sagte er und tippte mit der Spitze des Zeigefingers auf etwas, das nicht da war.
»Berdy?«
»Wieso sagst du das?«
Lilli umklammerte das Lenkrad fester, drehte ihr Bruder jetzt völlig durch? »Wieso sage ich was?«
»Das stimmt nicht!«, schrie er. »Hör auf damit! Das stimmt nicht!«
Kleine Stromstöße durchfuhren ihren Körper bei jedem Wort. »Verdammt, was ist mit dir?«
Sie ließ den Fuß etwas vom Gas, um eine Hand vom Lenkrad zu nehmen und Berdy an der Schulter zu berühren.
»Finger weg!«, herrschte er sie an. »Nimm deine Griffel von mir, du Schwein! Ich weiß, was du getan hast. Ich weiß, was du in dem Sack versteckt hast.«
»Berdy …« Tränen traten Lilli in die Augen.
Etwas veränderte sich. Alle Wut und Aufregung verschwanden aus Berdys Mimik und er saß steif da wie eine Puppe.
Lilli weinte. Sie bemühte sich, sich weiter auf die Straße zu konzentrieren. So langsam musste diese Landstraße doch zu Ende sein. Keine Ampeln, kein Gegenverkehr, nicht einmal Seitenstraßen gab es hier. Hätte sie doch bloß Empfang, dann könnte sie das Navi im Handy aktivieren.
Plötzlich kreischte Berdy und warf die Arme in die Luft. »Pass auf!«
Lilli trat mit aller Kraft auf die Bremse. Der Wagen geriet ins Schleudern und es gelang ihr im letzten Moment, ihn am Ausbrechen zu hindern. Mit quietschenden Reifen kamen sie zum Stehen. Zitternd klammerte sie sich am Lenkrad fest.
Berdy schnaufte neben ihr, er saß gerade in den Sitz gedrückt und starrte mit weit geöffneten Augen nach draußen.
Lillis Schock legte sich und verwandelte sich in Zorn. »Hast du sie noch alle?« Sie ließ vom Steuer ab und wandte sich Berdy zu. »Du hättest uns umbringen können!«
Berdy reagierte nicht, er hatte den Blick weiter nach vorne gerichtet. Auch er zitterte. »Siehst du sie nicht?«
»Wen?« Dort draußen war nichts.
»Die Frau in dem Kleid. Du musst sie doch sehen.«
»Ich fahre uns jetzt nach Hause.«
»Nein! Warte. Sie … Was hält sie da in der Hand? Oh Gott, Lilli, was hat sie da bloß?«
Lilli ließ den Wagen an. Es gelang ihr nicht, ihren Körper unter Kontrolle zu bringen. Der Schrecken saß ihr noch in den Knochen und Berdys Verhalten wurde immer beunruhigender.
Er jammerte neben ihr. Tränen rannen seine Wangen hinab und er krallte sich in den Sitz. Er nuschelte Worte, die sie nicht verstand.
Ohne auf ihn einzugehen, gab sie Gas.
»Halt! Du fährst sie ja um!« Berdy wollte nach dem Lenkrad greifen, doch Lilli schlug die Hand weg.
»Es reicht! Wenn du nicht die Klappe hältst …«
Aus dem Augenwinkel sah Lilli, wie Berdy das Türschloss entriegelte. Sie hatte den Wagen bereits auf 60 Stundenkilometer beschleunigt, da schnallte er sich ab. Sofort trat Sie erneut auf die Bremse. Berdy tastete nach dem Türgriff, öffnete die Tür und sprang hinaus.
Lillie kreischte und die Reifen stimmten mit ein. Sie brauchte drei Anläufe, um sich abzuschnallen, und stolperte aus dem Wagen.
Berdy war bereits im Wald verschwunden. »Sie sind überall! Sie sind überall!«, hörte sie ihn brüllen, doch seine Stimme entfernte sich.
»Berdy!«, rief sie. »Berdy!« Er antwortete nicht.
Kopflos rannte sie ihrem Bruder hinterher. In ihrem Handy aktivierte sie die Taschenlampe, aber in der Dunkelheit des Waldes war kaum etwas zu erkennen. Immer wieder strauchelte sie, stürzte auf die Knie und stieß sich die Schultern an Baumstämmen an. Sie rief nach Berdy. Er antwortete nicht.
Irgendwann gab sie es auf.
Lilli hatte keine Ahnung, wie lange sie bereits durch den Wald gehastet war. Berdy hörte sie schon lange nicht mehr. Es regnete wieder und das Donnern der Tropfen auf den Baumkronen nagte an ihrem Verstand. Sie fror, in ihrer durchnässten Kleidung, wusste nicht, wie tief sie in den Wald vorgedrungen war, noch wo das Auto parkte. Also schlang sie die Arme um den Körper und irrte weiter umher.
Ein Flüstern ließ sie innehalten. Hatte nicht eben jemand ihren Namen gerufen?
»Berdy?«
Regenplätschern.
Lilli ging weiter. Wäre sie doch nur netter zu ihm gewesen. Hätte gesehen, dass es ihm schlecht gegangen war. Sie hätten noch am Campingplatz um Hilfe bitten können. Sie war so egoistisch gewesen. Wütend, wegen dieses blöden Festivals. Ihre Tränen vermischten sich mit dem Regen, der ihr Gesicht hinabrann.
»Ich finde dich, Berdy«, rief sie, so laut sie konnte. »Hörst du? Ich werde dich finden!«
Und wenn es das Letzte ist, was ich tue.
Von allen Seiten raschelte das Laub, so als handelte es sich um flüsternde Kinderstimmen. Einsame Seelen der Jungen und Mädchen, die eines Tages im Wald verloren gegangen waren, und die nun ruhelos umherirrten, auf der Suche nach einem früheren Leben.

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