Gib Acht, wenn der Weihnachtsmann erwacht!

3 Wörter Dezember 2019
Konversation
Rabe
Hypochonder

1

Ich habe entsetzliche Angst vor dem Weihnachtsmann. Mit vier Jahren hörte ich Geräusche aus dem Kamin. Ruß und Asche rieselten zu Boden und bedeckten das Feuerholz mit einer grauschwarzen Schicht.
Ich wagte nicht, zu schreien, nicht einmal zu atmen. Saß einfach da wie erstarrt. Ein dunkles Lachen ertönte, das durch den Schornstein verstärkt geisterhaft hallte. »Ho ho ho.«
Was kroch da auf mich zu? Das Lachen hatte nicht menschlich geklungen. Der Geist eines Kindes? Vor Jahren in den Kamin geworfen, verbrannt, erstickt, die Lungen voller Asche, weswegen die Stimme dunkel und verzerrt klang. Oder war es eingemauert worden und elendig verhungert?
Gleich würde eine Hand erscheinen, weiß und winzig. Sie würde die Finger nach mir ausstrecken und mich zu sich winken. »Lass uns spielen. Komm zu mir in den Kamin und spiel mit mir. Für immer.«
Da kam es hervor. Keine Hand, ein Fuß. Ein Fuß verpackt in einem schwarzen Stiefel.
Ich atmete flach und schnell.
Der zweite Stiefel folgte. Sie waren riesig. Wieder erklang das schaurige Lachen. »Ho ho ho!« Und zwei Beine in engem roten Stoff ragten aus den Stiefeln empor.
Er bückte sich. Sein langer weißer Bart berührte dabei die Knie. Seine Augen funkelten bösartig und er grinste breit, als er erneut lachte: »Ho ho ho!«
Er tat einen Schritt auf mich zu. In der Hand hielt er einen Sack, der mit irgendetwas gefüllt war. Sicher war er zuvor durch andere Schornsteine in Häuser eingedrungen und hatte Kinder entführt. Und nun war ich an der Reihe.
Mein Atem ging pfeifend. Schneller und schneller.
Der Mann näherte sich mir und ich verlor das Bewusstsein.

2

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich keine Ahnung gehabt, was ein Weihnachtsmann war. Meine Eltern hatten mich gelehrt, dass das Christkind zu Weihnachten erschien. Ein Engel, mit goldenen Haaren, ganz in weiß gekleidet, der den Kindern ihre Geschenke unter den Baum legte – wenn sie denn artig waren.
Ich hatte mich immer für artig gehalten. An jenem Abend fanden Zweifel ihren Weg zu mir. Noch bevor ich das Bewusstsein verlor, überlegte ich fieberhaft, was ich angestellt hatte. Wieso mich Knecht Ruprecht anstelle des Christkinds besuchte. Ich fühlte mich oft fiebrig und schwach, genoss die Aufmerksamkeit, die mir dadurch zuteilwurde, ja, und ich gebe zu, dass ich manchmal vorgab, es ginge mir schlecht. Nur, um mehr geliebt zu werden.
Ich war ein Hypochonder, auch wenn mir dieses Wort zu dem Zeitpunkt nicht geläufig war.
Im Kinderzimmer erwachte ich. Meine Eltern und mein Onkel standen über mich gebeugt, Mama befühlte meine Stirn. Geistig umnebelt betrachtete ich meine Familie, durchwühlte meine Erinnerungen, und langsam, nach und nach, fiel mir wieder ein, was geschehen war. Mein Blick blieb eine Weile an meinem Onkel hängen. Ich registrierte die rote Kleidung, den gepolsterten Bauch, die Enden eines Kissens lugten unter der roten Jacke hervor. In der Hand hielt er eine rote Mütze, an der ein Bart klebte. Da schrak ich auf und wich zurück, presste meinen Rücken gegen die eiskalte Wand. Verwirrt und ängstlich wusste ich nicht, was vor sich ging.
Meine Eltern erklärten es mir.
Es war ein dummer Scherz gewesen. Mein Onkel war am Heiligen Abend angereist, nicht wie die restlichen Verwandten am ersten Weihnachtstag. Er hatte mich als Weihnachtsmann überraschen wollen, weil er vermutet hatte, ich würde an diese Kreatur und nicht an das Christkind glauben.
Meine Eltern hatten es für eine gute Idee gehalten, wenngleich sie nicht in den Plan eingeweiht gewesen waren, dass sich mein Onkel im Kamin verstecken würde.
Er entschuldigte sich viele Male bei mir. Ich vergab ihm, dieser Moment hatte sich jedoch in mein Gehirn gebrannt.
An jenem Abend verlor ich meinen Glauben an das Christkind und an den Geist der Weihnacht. Dafür gewann ich etwas dazu: Furcht vor dem Weihnachtsmann.
Wann immer ich einen sah, ob in den Straßen oder in einer Weihnachtswerbung, überkam mich die Angst. Sie war wie eine Schlange, die sich langsam anpirschte und mit einer einzigen, fließenden Bewegung ihre Zähne in mein Fleisch rammte.

3

Viele Jahre später schlug ich die Zeitung auf. Es war der erste Dezember. Ich las von jüngsten Morden, die die Stadt erschütterten. Ein Irrer streifte des Nachts durch die Straßen, verkleidet als Weihnachtsmann fiel er über die Menschen her. Stets trug er ein Messer mit sich, das er den Leuten in Hälse und Leiber rammte.
Niemand wusste, wer der Verrückte war.
Die Polizei arbeitete mit Hochdruck an dem Fall. Sie verhafteten Männer, die als Weihnachtsmänner verkleidet auf den Straßen Spenden sammelten und verhörten sie.
Sie schickten Beamte in Zivil in die Stadt und wechselten sich ab, sobald Sonne und Mond sich kreuzten.
Meine Frau und ich lebten in ständiger Angst. Niemand war vor dem Verrückten sicher, denn er schien sich seine Opfer willkürlich auszuwählen. Männer, Frauen – wer das Pech hatte, ihm über den Weg zu laufen, verblutete auf qualvolle Weise.
Wir verließen selten nach der Abenddämmerung das Haus. Als Bürokauffrau war Marta zuhause, bevor es dunkel wurde, ich hatte als Mechatroniker weniger Glück.
Um die Weihnachtszeit herum war ich ohnehin nervös genug. Einen Killer in der Nachbarschaft zu haben, machte alles schlimmer.
Auf dem Nachhauseweg blickte ich mich ständig um, schrak bei jedem kleinsten Geräusch zusammen, hob die Arme abwehrend vor die Brust, sobald ich eine Bewegung registrierte.
Diese Wochen und Monate waren die Hölle für mich.
An einem Abend nahm ich wie gewohnt den schnellsten Weg nach Hause. Mein Arbeitsplatz befand sich in der Nähe meiner Wohnung, ich konnte entweder hinlaufen oder Fahrradfahren. Da ich in letzter Zeit zu viele Dokumentationen gesehen hatte, in denen ahnungslose Menschen von ihren Fahrrädern gezogen worden waren, lief ich meistens. So hatte ich mehr Möglichkeiten zur Flucht. Ich wohnte in einer Siedlung mit dunklen Seitengassen. Die Straßenlaternen erhellen nicht den kompletten Weg, also tauchte ich wieder und wieder in Dunkelheit ein, um kurz im Licht Luft schnappen zu können.
Am Morgen hatte ich einen Artikel gelesen, in dem von einer weiteren Leiche die Rede war, und das mulmige Gefühl in mir nahm erschreckende Ausmaße an. Überall sah ich huschende Bewegungen und ich fühlte mich pausenlos beobachtet.
Dann passierte es.
Schritte, die sich näherten. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, lief einfach weiter. Meine Muskeln waren bis aufs Äußerste angespannt. Ich war bereit, wie ein Kaninchen einen Haken zu schlagen und zu rennen wie der Teufel. Ein Schatten erhob sich neben mir an der Wand. Er war deutlich länger als meiner und die Schritte klangen wie von schweren Stiefeln verursacht.
Er ist es, dachte ich mit kalter Gewissheit. Meine Brust fühlte sich taub an und doch raste mein Herz, als wäre es ein flatternder Kolibri. Ich lief schneller. Bog in die nächste Straße ein, riskierte einen Blick über die Schulter.
Nichts zu sehen.
Irritiert blieb ich stehen. Wie war das möglich? Eben war der Kerl mir dicht auf den Fersen gewesen. Er hätte die Hand nach mir ausstrecken können und jetzt war er einfach verschwunden?
Ich ging ein paar Schritte zurück und lugte um die Ecke.
Nichts.
Sonderbar. Ich zuckte die Achseln und setzte meinen Weg fort. Bis zur Wohnung war es nicht mehr weit. Ich konnte das Haus am Ende der Straße erspähen.
Plötzlich hörte ich erneut Schritte hinter mir. Schneller dieses Mal. Ein Lachen folgte. Ein dunkles Lachen, das meinen Körper augenblicklich in eine puddingartige Masse verwandelte.
»Ho ho ho!«
Kopflos rannte ich los. Schwere Schritte folgten mir, schnell. Zu schnell.
Schon nach wenigen Metern spürte ich ein starkes Stechen in der Seite, aber ich durfte nicht stehen bleiben. Mein Verfolger holte auf.
Endlich, die rettende Einfahrt. Ich sprintete zur Haustür, ohne mich erneut umzusehen, kramte in der Jackentasche nach dem Haustürschlüssel, ertastete ihn, zog ihn heraus – und ließ ihn fallen. Fluchend bückte ich mich. Tastete blind umher, da das verdammte Licht der Straßenlaternen nicht bis zu mir reichte.
Mein Verfolger schnaufte hinter mir. Er rannte nicht mehr, sondern bewegte sich langsam und mit schweren Schritten. Gleich würde er mich packen und mir seine Klinge ins Fleisch rammen.
Da! Der Schlüssel! Ich hob ihn auf und brauchte ein paar Anläufe, um ihn ins Schloss zu befördern. Er ließ sich mühelos drehen. Ich schlüpfte durch die Tür, die ich nur soweit öffnete, dass mein Körper hindurchpasste.
Ich stand im Flur meines Hauses und rang nach Luft.
Marta kam zu mir gerannt: »Himmel, David, was ist passiert? Du siehst aus, als wärst du vor dem Leibhaftigen geflohen.«
Ich wedelte abwehrend mit der Hand und ließ mich von ihr stützen, bis wir die Küche erreichten. Dort nahm ich auf dem Stuhl Platz und sammelte mich. Es dauerte eine Weile, bis ich imstande war zu sprechen.
»Oh, Marta«, keuchte ich. »Er war es, der Mörder in Verkleidung eines Weihnachtsmannes. Er war direkt hinter mir. Ich bin ihm knapp entkommen.«
»Großer Gott …«
»Ich habe bereits die Klinge im Rücken spüren können. Es war schrecklich.«
Marta kannte meine Angst vor dem Weihnachtsmann. Kurz vor unserer Hochzeit hatte ich ihr von dem traumatischen Erlebnis erzählt und entgegen meiner Befürchtung, ausgelacht zu werden, hatte sie verständnisvoll genickt.
Jetzt strich sie mir zärtlich das Haar aus dem verschwitzten Gesicht. »Ich sollte Jolanda absagen.«
»Nein, auf keinen Fall! Du hast dir deinen Urlaub verdient und ihr beide freut euch schon so lange darauf, gemeinsam Zeit zu verbringen.«
»Aber …«
»Keine Widerrede, Liebling. Du fährst zu ihr und ihr habt ein fantastisches Wochenende.«
Marta nickte. Die Sorge stand ihr ins Gesicht geschrieben.
Jolanda war Martas Schwester. Die beiden hatten sich ihrer Berufe wegen seit zwei Jahren nicht gesehen und nun war es ihnen endlich gelungen, zur selben Zeit Urlaub zu beantragen. Jolanda musste oft am Wochenende arbeiten, Marta hatte das Glück, dass sie einzig Urlaubstage für den Freitag und den Montag benötigte.
»Versprich mir eines«, sagte ich und nahm Martas Hand. »Denke nicht an diesen Irren und sorge dich nicht um mich. Hab einfach Spaß. Versprichst du es mir?«
Marta zögerte.
Ich blickte ihr tief in die Augen und rang mir ein Lächeln ab, von dem ich hoffte, es würde überzeugend wirken.
Sie nickte. »Ich verspreche es.«

4

Der Tag ihrer Abreise war gekommen.
Nachdem Marta in den Zug gestiegen war, machte ich mich auf den Heimweg. Es war dunkel.
Schnell kramte ich mein Handy aus der Jackentasche, wählte die Nummer meiner Arbeit und meldete ich mich krank. Ich konnte unmöglich riskieren, erneut von dem irren Weihnachtsmann-Killer gejagt zu werden, wenn eine leere Wohnung auf mich wartete.
Aus den Nachrichten wusste ich, dass der Killer nie morgens jagte, sondern nur nach Einbruch der Nacht. Trotzdem sehnte ich mich danach, zuhause zu sein und die Türen zu verbarrikadieren.
Überall herrschte Weihnachtsstimmung. An den Straßenlaternen waren leuchtende Sterne angebracht worden, in den Fenstern der Leute strahlten Pyramiden, Weihnachtssterne und … Weihnachtsmänner.
Ich verstand nicht, was die Menschen daran begeisterte. Nicht einmal besonders freundlich sah er aus. Ein dicker Mann im roten Anzug, mit einem langen Bart, der sein Gesicht größtenteils verbarg. Zu welchem Zweck? Durfte man nicht erkennen, was darunter lauerte?
Am Bahnhof hatte trotz früher Stunde reges Treiben geherrscht, jetzt wurde es langsam ruhiger und verlassener und ich wünschte mir den Trubel zurück.
Plötzlich kam mir die Morgenstunde ein bisschen finsterer vor und die Stille erdrückend. Ich erreichte die Gasse, in der ich von dem Killer gejagt worden war und wischte mir den Schweiß aus dem Gesicht.
Ein Rabe krähte und ich fuhr zusammen. Er saß auf einem Ast links von mir. Mir war, als führte er etwas im Schilde. Seine intelligenten Augen funkelten boshaft. Mit einem neuerlichen Krächzen breitete er die Flügel aus und flog über mich hinweg. Ich sah ihm nach, bis die Dunkelheit ihn verschluckte. Dann lief ich weiter. Spielte nervös mit den Knöpfen meiner Jacke und schaute mich immer wieder um.
Einmal glaubte ich, hinter mir schwere Schritte zu hören, doch niemand verfolgte mich. Dieses Mal kam ich ohne Zwischenfall zuhause an.
Nachdem ich die warme Stube betreten hatte, schloss ich direkt die Tür ab und ließ den Schlüssel stecken. Ich ging durch jedes Zimmer, prüfte die Fenster, schaute unter das Bett und in den Kleiderschrank. Ja, das war paranoid, aber es geht nicht alle Tage ein Killer um, da wollte ich lieber auf Nummer sicher gehen.
Erleichtert ließ ich mich aufs Sofa fallen und schloss die Augen. Mir war nicht klar gewesen, wie erschöpft ich war. Sofort fiel ich in einen unruhigen Schlaf.
Mein eigenes Schnarchen weckte mich. Ein einzelner, grunzender Laut, der Marta zum Lachen gebracht hätte. Dieses Mal lachte sie nicht, ich war allein und so fühlte ich mich auch.
Um der Stille entgegenzuwirken, schaltete ich den Fernseher ein.
Die neuste Coca-Cola-Truck-Werbung lief und ich wechselte das Programm. Mehr Weihnachtswerbung. Knurrend drückte ich die Programmtaste. Ein Weihnachtsfilm – der Grinch mit Jim Carry. Ich seufzte und legte die Fernbedienung neben mich. Immerhin war dort kein Weihnachtsmann zu sehen. Nicht direkt. Er würde mich beruhigen.
Gerade als der Hund Max, der eine rote Nase trug, zur Weihnachtsmusik durch die Wohnung des Grinches hüpfte, polterte es.
Das Geräusch war aus der Küche gekommen und hatte wie Marta geklungen, die Töpfe und Pfannen aus dem Schrank holte, um zu kochen. Tatsächlich stieg mir ein köstlicher Geruch von Fleisch und Rotkohl in die Nase.
Aber das wahr unmöglich.
Marta konnte nicht im Haus sein und ich hatte alle Zimmer überprüft. Wer stand in meiner Küche?
Auf leisen Sohlen bewegte ich mich fort. Zu spät dämmerte mir, dass ich keine Waffe hatte, um mich zu verteidigen. Die scharfen Gegenstände befanden sich in der Küche. Etwas Schweres fand ich auf die Schnelle nicht, nur ein Regenschirm lag im Flur; ich schnappte ihn mir. Immerhin hatte er eine Spitze, die ich dem Killer ins Auge rammen konnte.
Ich nahm einige tiefe Atemzüge. Dann trat ich die Tür auf.
Niemand da.
Die Küche war ordentlich aufgeräumt. Keine Töpfe und Teller zu sehen. Ich stutzte. Hatte ich mir die Geräusche eingebildet? Und den Geruch? Möglicherweise kochten die Nachbarn und der Duft war zu mir in die Wohnung gelangt. Ja, so musste es sein. Unsere Nachbarn kochten gerne und nicht selten luden sie uns zu sich ein, zu einem gelungenen Mahl und anständiger Konversation.
Ich ließ meinen Arm und damit den Regenschirm sinken und fuhr mir durch das Haar. Es war verschwitzt und klebrig.
Wieder ein Poltern. Dieses Mal aus dem Schlafzimmer. Ich wirbelte herum, hielt meine jämmerliche Waffe wie ein Schild. Mit zögerlichen Schritten bewegte ich mich durch die Wohnung.
Die Tür war angelehnt. Ich war mir sicher, sie geschlossen zu haben.
Ich gab der Tür mit der Spitze des Schirms einen Stups und bereitete mich auf einen Angriff vor. Alles sah aus wie immer. Abgestandene Luft schwebte mir entgegen, da ich vergessen hatte zu lüften. Der Typ musste hinter der Tür warten. Ich grinste. Er rechnete nicht damit, dass ich vorbereitet war. Auf Zehenspitzen betrat ich das Schlafzimmer und wirbelte herum, um dem Killer einen Schlag auf seinen Kopf zu verpassen.
Hinter der Tür stand niemand.
Ich stutzte. Blieb der Schrank. Die Dielen quietschten unter meinen Schritten und ich zuckte jedes Mal zusammen. Der Kleiderschrank füllte eine komplette Wand aus. Es gab zwei Schiebetüren. Mit erhobenem Schirm öffnete ich die erste – Kleider, Hosen, Hemden – kein Killer. In Martas Ecke versteckte er sich also nicht. Ich nahm einen tiefen Atemzug und ging zur zweiten Schiebetür.
»Aaaiiyaaahhh!«, schrie ich und riss sie auf – nichts. Kleidung und Dunkelheit starrten mir entgegen. Ich wühlte mich durch Kleiderbügel, griff nach frisch gebügelten Hosen und warf sie auf den Boden – nichts.
Wie war das möglich? Wie … Die Wand des Schrankes wackelte. Sie ließ sich bewegen, als wäre sie ein Durchgang in einen geheimen Raum. Vorsichtig schob ich das Brett zur Seite und stand direkt dem Killer gegenüber.
Kreischend wich ich zurück, stolperte über meine Füße, ließ den Schirm fallen und landete auf dem Boden. Panisch tastete ich umher, ohne den Blick von der Gestalt in roter Kleidung zu nehmen.
»Moment mal«, murmelte ich und rappelte mich auf. Da stand niemand in meinem Schrank. Was ich für den Killer gehalten hatte, war ein Kostüm. Ein Weihnachtsmannkostüm.
Ich zupfte am Kragen meines Pullovers, schnappte nach Atem. Wie in Trance ging ich auf das Kostüm zu. Es hing ordentlich auf einem Kleiderbügel. Warum? Und woher kam diese falsche Wand? Ich streckte die Hand aus, fuhr mit zittrigen Fingern über den Stoff. Kurz wurde mir schwarz vor Augen und ich zog sie zurück.
Poltern hinter mir.
Ich wirbelte herum. Ein Schatten ragte neben mir auf. Kopflos rannte ich aus dem Zimmer. Schwere Schritte nahmen die Verfolgung auf.
»Ho ho ho«, drang eine tiefe Stimme an meine Ohren.
Ohgottohgottohgott, er ist hier! Hilf mir Gott, er ist hinter mir her!
»Ho ho ho.« Stapf. Stapf. Stapf.
Ich stieß mir die Schulter am Türrahmen zum Wohnzimmer an, sprintete hindurch und eilte zur Haustür. Ich rüttelte daran, doch sie ließ sich nicht öffnen. Ich hatte mir selbst die Fluchtmöglichkeit verbaut.
Schlüssel, schoss es mir durch den Kopf.
Der Killer hatte mittlerweile das Wohnzimmer erreicht. Er bewegte sich langsam fort und jeder stampfende Schritt fuhr mir wie Donner durch die Knochen.
»Ho ho ho.«
In blinder Panik rannte ich weiter. Es gab nur noch das Badezimmerfenster, das mich retten konnte. Es war schmal und ich mir nicht sicher, ob ich hindurchpasste. Doch lieber kugelte ich mir beide Arme aus, als weiterhin von diesem Irren gejagt zu werden.
Ich eilte ins Bad. Der Bewegungsmelder wurde aktiviert und fahles Licht eingeschaltet. Der Killer stand mir gegenüber. Er hatte den Mund zu einem schaurigen Grinsen verzerrt und hob das Messer, deren Klinge an einen Reißzahn erinnerte. Bart und Weihnachtsmütze verdeckten einen Großteil seines Gesichts.
Das »Ho ho ho«, erfüllte meinen Kopf. Ich presste die Handflächen gegen die Ohren. Der Killer imitierte mich und hielt ebenfalls die Hände an die Ohren gepresst. Keuchend wich ich zurück. Etwas fiel mir aus der Hand und landete scheppernd auf dem Boden.
Ich betrachtete den Gegenstand, als handelte es sich dabei um eine fremde Lebensform. Was ich sah, war ein Messer. An der Spitze klebte eine rostbraune Substanz. Mit einem Mal war mir, als wären mein Geist und Körper nicht länger eins. Wie in Trance blickte ich auf, starrte in den Spiegel vor mir. Mein Spiegelbild.
Poltern. Laute Stimmen, die das Haus erfüllten. Ich nahm sie kaum wahr. Uniformierte Männer platzten ins Bad, packten mich und zerrten mich weg.

5

Als Nächstes wurde ich zu einem Verhör geschleift. Jemand fragte, was mit Marta geschehen sei, und ich beteuerte wieder und wieder, dass sie bei ihrer Schwester sei. Angeblich hätten sie im Keller meiner Wohnung eine Leiche gefunden. Sie zeigten mir ein Foto. Nichts weiter als ein Skelett. Wie sollte das Marta sein? Sie ist bei Jolanda.
Ich verstehe nicht, warum die mich hier festhalten. Ich habe an dem Abend die Nerven verloren. Habe mir eingebildet, der Killer sei ins Haus eingedrungen und wäre hinter mir her. Das ist alles. Deswegen hielt ich mein Spiegelbild für ihn.
Das Messer?
Was weiß ich. Ich habe es jedenfalls nicht genommen und wo das Blut herkommt, kann ich Ihnen nicht sagen. Vielleicht hat mir der irre Weihnachtsmann das Messer untergeschoben. Ja, so muss es gewesen sein! Er will mir die Morde anhängen!
Sie sind mein Anwalt, informieren Sie die Polizei darüber; das Gericht! Der Weihnachtsmann verfolgt mich schon mein Leben lang und jetzt soll ich seinetwegen ins Gefängnis. Das ist nicht fair!
Ja, von mir aus, rufen Sie einen Seelenklempner. Sie werden sehen, dass ich gesund bin. Sie alle!
Bleiben Sie hier! Wo gehen Sie hin? Hey!
Ich bin unschuldig! Ich bin unschuldig!

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